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Im Klassenzimmer
Intro-Kolumne erschienen in Siegessäule 02/2025
Rechte Ressentiments erleben unter jungen Menschen eine Renaissance. SIEGESSÄULE-Redakteur*in Lara Hansen berichtet von der Arbeit im Klassenzimmer und aus der eigenen Jugend
Der Mythos, dass junge Generationen „offener“ als die vor ihnen sind, hat sich für mich weder in meiner Schulzeit im ländlichen Nordfriesland noch in Berlin bewahrheitet – im Gegenteil, in den vergangenen Jahren hat sich die Lage sogar noch dramatisiert. Im Rahmen eines ehrenamtlichen Projekts gebe ich seit 2020 Aufklärungs- und Antidiskriminierungsworkshops zu sexueller Vielfalt in Schulen in ganz Berlin und bin der rasant wachsenden Queerfeindlichkeit im Klassenraum hautnah ausgesetzt. Der Konsens in (zu) vielen Klassen: Queer sein ist uncool. Toxisch männlich und menschenfeindlich sein liegt im Trend. Belege gibt es en masse. Etwa ein Meinungsbild, das wir vor Kurzem zum Anfang der Stunde mit einer Klasse gemacht haben. Wir fragen: Wie steht ihr zurgleichgeschlechtlichen Ehe? Oder zum Asyl für queere Geflüchtete? Mit einem „Ne, Diggi“ schlagen sich die Schüler*innen fast einvernehmlich auf die „Nein-Seite“ im Raum. Ich muss schlucken. Vor mir steht eine künftige Wählergeneration. In einer anderen Klasse serviert ein 14-jähriger Junge Bibel-Referenzen à la Adam und Eva. Das wäre die natürliche Ordnung. Wer „als Mädchen“ auf die Jungstoilette gehe, „bekommt aufs Maul“, sagt er später. Patriarchaler Irrglauben gesellt sich dazu. Ein Junge erzählt, durch Weinen sinke das Testosteron. Dass auch Eierstöcke das T-Hormon produzieren, verschlägt ihm die Sprache. „Behindert“ und „schwul“ benutzt er danach weiter als Beleidigung. Diskriminierung sei selbst verschuldet, Kapitalismus ist King, Arbeitslose sollen doch einfach arbeiten gehen, lautet der neoliberale Ton. Unsere Arbeit im Klassenraum wird verschluckt von einem Social-Media-Algorithmus, der die pubertären Unsicherheiten von heranwachsenden Jungs mit einfachen Feindbildern nährt. Geht es nach ihnen, soll die AfD regieren. Bei einer U16-Wahl kam sie in Brandenburg vor Kurzem auf fast 30 Prozent. In Berlin hat die Partei ein Portal eingerichtet, unter dem Schüler*innen ihre „links-grün-versifften“ Lehrkräfte melden können, wenn sie zu einer Meinung „gedrängt“ werden. Als ein Schüler mich fragt, warum wir uns denn so „aufdrängen“, versetzt mich ein Flashback zurück in die sechste Klasse: „Es gibt Männer, die
mit Männern Sex haben. Das ist aber komisch“, sagte mein Bio-Lehrer damals im Sexualkundeunterricht. Ein queeres Vorbild hätte mir wohl einige Jahre Scham ersparen können. Mein Herz bricht und heilt zugleich, wenn ich heute wieder im Klassenzimmer stehe. In der offenen Runde am Ende eines Workshops hebt ein Schüler für den Bruchteil einer Sekunde seinen Daumen und blinzelt uns zu, bevor die anderen seine Reaktion entdecken könnten. Einige stecken sich in den Pausen heimlich queere Sticker in den Rucksack. Es ist das beschämte Wegschauen, die Angst aufzufliegen, in der ich mich selbst als Kind wiedererkenne. Dazu die Erkenntnis: mein jugendliches Ich hätte mich damals cool gefunden. Das ist einer der Gründe, warum ich diese Arbeit weiter- mache. Es gibt mindestens ein queeres Kind pro Klasse, das uns braucht.
„Irgendwie sind die Queers immer zu mir gekommen“
Interview erschienen in L-MAG März/April 2025
Devrim Lingnau, bekannt aus der Emmy-prämierten Netflix-Serie „Die Kaiserin“, ist der deutsche „European Shooting Star“ bei der Berlinale. Was sie sich von dem Preis erhofft und warum sie gerne queere Rollen spielt, erzählt sie im Gespräch mit L-MAG
L-MAG: Devrim, du hast die begehrte Auszeichnung „European Shooting Star 2025“ erhalten und vertrittst damit Deutschland als vielversprechende Nachwuchsschauspielerin. Was bedeutet dieser Preis für deinen Werdegang?
Devrim: Ich erhoffe mir davon, dass ich mehr Filmschaffende kennenlerne und mich denen auch zum ersten Mal als Person vorstellen kann. Die Besonderheit ist ja, dass der Preis von Projekten losgelöst ist und dass ich mit Menschen reden kann, ohne die ganze Zeit sagen zu müssen: „Das ist der beste Film ...“ (lacht)
L-MAG: War deine künstlerische Laufbahn für dich immer klar?
Devrim: Ich hab in Mannheim die klassische Ballett- Ausbildung gemacht. Ab 15, 16 habe ich gemerkt, dass ich – da war ich schon zehn Jahre in der Ausbildung – nicht als Tänzerin arbeiten möchte, weil es ein unfassbar an- strengender Beruf ist und man seinen Kör- per für wenig Geld hergibt. Ich hätte mich nie getraut zu sagen: „Dann werde ich jetzt eben Schauspielerin“, weil die Angst zu groß war, dass das nicht klappt. Doch insgeheim war der Wunsch natürlich da. Für mich war aber immer klar, dass ich irgendwas mit meinen Händen machen will. Dann hab ich mein Kunststudium in Karlsruhe angefangen und das war das Beste, was mir hätte passie- ren können, weil ich sowohl das praktische Handwerk erlernen konnte, als auch einen intellektuelleren Zugang zur darstellenden Kunst bekommen habe.
L-MAG: Beeinflusst das Handwerk dein Schauspiel?
Devrim: Das Studium hat definitiv mein Spiel beeinflusst. Auf der Kunstakademie zu sein und sich mit Kunsttheoretiker:innen auseinanderzusetzen hat mir Referenzen mitgegeben, auf die ich mich jenseits der Filmwelt beziehen kann.
L-MAG: Zum Beispiel?
Devrim: Kenneth Anger war für mich von Anfang an einer der wichtigsten Inspirationen. Er ist ja auch bekannt für seine queere Kunst. Diese Verbindung zwischen Kunst und Aktivismus hat mich schon immer begeistert.
L-MAG: Du hast selbst schon queere Charaktere gespielt, wie etwa in „Carmilla“ (2019). Würdest du sagen, dass dich solche Rollen reizen?
Devrim: Ich hab mich ja selbst nie als queer geoutet, aber irgendwie sind die Queers immer zu mir gekommen (lacht). „Carmilla“ war der erste Kinoflim, den ich gemacht habe – ein lesbischer Vampirfilm – das waren einfach meine ersten Sexzenen vor der Kamera mit meiner Kollegin Hannah Rae, als wir beide noch 17 oder 18 waren. Ich bin froh, dass ich meine ersten sexuellen Filmerfahrungen in queeren Kontexten hatte. Das war für mich viel besser als in heteronormativen, wo du meistens richtig geschädigt rauskommst.
L-MAG: Also würdest du in Zukunft auch mehr solche Rollen annehmen?
Devrim: Ja, ich will nicht woanders hin ... (lacht)
L-MAG: In früheren Filmen über Elisabeth von Österreich lag der Fokus häufig auf dem Schönheitskult. Wie hast du es vor diesem Hintergrund geschafft, dieser Figur in „Die Kaiserin“ eine gewisse Tiefe zu geben?
Devrim: Genauso wie die Romy-Schneider-Filme ein konservatives Produkt der Nachkriegszeit waren, ist das, was wir heute mit unserer Serie machen, ein Produkt unserer Zeit. Deswegen haben wir den Schönheitskult auch nicht so reproduziert. Trotzdem war es für mich schwer, mich davon als Schauspielerin freizumachen. Denn es ist immer noch ein kommerzielles Produkt, bei dem sehr viel Fokus drauf gelegt wird, wie etwas aussieht. Das war eine der größten Herausforderungen für mich.
L-MAG: Elisabeth wird oft als Vorreiterin der Emanzipation gefeiert. Gleichzeitig ist sie Täterin der Monarchie im Habsburger Reich. Wie setzt du dich selbst mit dieser Dualität in deiner Rolle als Kaiserin auseinander?
Devrim: Das ist ein bisschen schizophren, oder? Die großen Sympathieträger:innen sind Franz und Elisabeth, aber sie sind gleichzeitig Monarch:innen eines autokratischen Systems, das mindestens zwanzig kulturelle Minderheiten unterdrückt. Das wird thematisiert, aber nur so, dass sie trotzdem Sympathieträger:innen bleiben. Und dann sieht man auch mal die italienischen Rebellen, die aufbegehren. Das Perfide daran ist, dass Elisabeth Sympathie zeigt mit ihnen und wir das als etwas Rührendes lesen. Aber eigentlich ist sie der Kopf dieses Systems, der Hunderte von Menschen in den Krieg, aufs Schlachtfeld schickt. Diese Schlachtfelder sehen wir nicht in der Serie. Ich finde, das muss man kritisch sehen, nicht, weil die Serie da was falsch macht, sondern weil unsere Aufgabe als Rezipient:innen ist, dass wir das, was wir konsumieren, auch hinterfragen.
L-MAG: In der Serie werden etwa patriarchale Machtverhältnisse kritisch hinterfragt. Wo siehst du diese strukturellen Probleme heute, insbesondere mit Blick auf die Industrie, in der du arbeitest?
Devrim: Ich würde schon sagen, dass Weiblichkeiten immer noch patriarchale Strukturen bedienen und gegen eine gewisse „Weichheit“ angehen müssen, um überhaupt ernst genommen zu werden. Ich glaube aber, dass diese Annahme auch im feministischen Kontext so existiert. Wer sind die Queers und Lesben, die wir uns zum Vorbild nehmen? Das sind oft noch die, die am meisten Raum einnehmen und patriarchale Verhaltensmuster reproduzieren. Wir müssen hinterfragen: Woher nehmen Leute ihre Souveränität? Machtstrukturen sind ein großer Teil unseres menschlichen Umgangs miteinander. Ich weiß nicht, wie man die abschaffen könnte. Letzten Endes ist die Lösung das Kollektiv.
Es juckt mich nicht mehr
Kolumne "Sex & Body" erschienen in L-MAG Juli/August 2024
Seit Generationen stellt sich regelmäßig die Frage rund ums Körperhaar. Besonders im Sommer greifen auch überzeugte Feminist:innen verstärkt zum Rasierer. Mit oder ohne Haar, das ist im Patriarchat noch immer die Frage
Ach ja, die Sache mit der Körperbehaarung. Eine Angelegenheit, die für mich als genderqueere Person, die (zu) lange zwischen Genderdysphorie und Zwangsheterosexualität hin- und herschwankte, schon immer einen schambehafteten Beigeschmack trug. Wie häufig stand ich unter der Dusche noch dem Sog eines jahrzehntelangen indoktrinierten weiblich-westlichen Schönheitsideals gegenüber, selbst nach meinem vermeintlich befreienden Umzug vom Dorf nach Berlin. „Rasier sie dir jetzt! Rasier dir alles!“, schrie mir dann eine krätzige Stimme aus dem Abfluss entgegen, von der ich dachte, ich hätte sie schon lange mit dem restlichen Heteronorm-Bullshit runtergespült. Vor allem nach einer durchtanzten Clubnacht, wenn ich mich extra dreckig fühlte oder mein inneres Schammonster an die Oberfläche kroch. Ich bildete mir ein, das Rasieren reinige mich. Als müsste mein Köper gezähmt werden. Als würden meine Achseln nicht auch stinken, wenn sie aalglatt sind.
Enthaaren war gewissermaßen für mich in der Jugend mein Beweis an die Außenwelt, dass ich „weiblich genug“ und hundert Prozent hetero bin. So wurde es uns schließlich eingetrichtert. Mädchen haben schön zu sein. Das heißt glatte Beine und lange Haare, denn so mag der Julian aus der Fußballmannschaft das. Dass ich an den Fußballjungs nie großes Interesse haben würde, ahnte ich damals schon, aber überleben wollte ich in der Hetero-Hegemonie dennoch. Leider sprossen bei mir schon mit neun die ersten Achselhaare und die im Intimbereich wuchsen gleich hinterher. Als meine Mitschüler:innen damals ein Bild von mir und meiner besten Freundin sahen, in dem meine braunen, lockigen Achselhaare vom Sonnenlicht ins Spotlight gehoben wurden, war das Urteil über mich als haariges, pre-pubertäres Wesen gefällt. Nicht Lady-like!
Was ich damals um jeden Preis loswerden wollte, ist heute Trend. Monobraue, pinke Achselhaare à la Miley Cyrus oder lange Stoppeln ganz nach Phoebe Bridgers – am besten kommt diese Behaarung allerdings an, wenn sie niedlich und blond ist. Und vorzugsweise von weißen Models wie ein Accessoire „getragen“ wird. Dabei schließt der Haar-emanzipatorische Befreiungskampf der angeblichen westlichen Moderne mal wieder Frauen und nicht binäre Menschen of Color aus. Dass das koloniale Weltverständnis noch immer tiefe Wurzeln im unbehaarten Schönheitsideal der Frau schlägt, kann man schnell mal vergessen, wenn Gillette Venus verspricht, die Göttin in uns zu erwecken. Das Matriarchat klingt jedenfalls anders. Und ich fühle mich selten weniger spirituell als nach dem Rasieren, wenn sich kleine Pickel anschließend in den Stoff meiner Unterhose reinfressen und es meine ganze Willenskraft kostet, mich da unten nicht zu kratzen.
Trotz feministischen Kampfgeists (und all der Unannehmlichkeiten) dauerte es eine Weile, bis ich mich vom zwanghaften Drang des Rasierens verabschieden konnte. Stoppeln hin oder her, alles schien besser als mein natürlicher Busch. Doch mit jeder Rasur wurde das lästige, unaufhörliche Jucken schlimmer. Und eines Tages kam der Ausschlag. Ausschlag? Meine Alarmglocken läuteten und meine Gynäkologin des Misstrauens warf leichtfertig eine lebensverändernde Diagnose in den Raum. Uff, was jetzt? Mein Leben, wie ich es kannte, zog an mir vorbei, bis ich einen ganzen dramatischen Tag später von einer anderen Gynäkologin (meines Vertrauens) die richtige Diagnose bekam: eine Haarwurzelentzündung. Ich war wohl noch nie so erleichtert über entzündete Haarwurzeln. Aber auch die tun verdammt nochmal weh. Die niederschmetternde Verordnung der Ärztin: Hände weg von der Rasierklinge, für mindestens 3 Monate. Halb so wild, merkte ich. Während der Zeit lernte ich meinen Körper lieben lernen in seiner vollen (Haar-)Pracht. Ich hab mich sogar mit dem Busch angefreundet, hab ihn gepflegt, gehegt, frisiert. Es stellte sich heraus, dass meine jahrelange Scham mit der Behaarung lediglich eine Haarwurzelentzündung und eine schockierende Falschdiagnose brauchte, um zu heilen. Je wohler ich mich in meiner Genderqueerness und meinem Körper ohne Scham fühle, je mehr Zeit ich zwischen wundervollen, queeren Menschen verbringe, die ihre Körper genauso zeigen, wie sie sind, desto selbstverständlicher ist die natürliche Behaarung für mich geworden. Die Schönheitsnorm, die mich so lange einnahm, interessiert mich nicht mehr. Die neue Norm ist: „Do what the fuck you want.“ Ob man eine Frisur daraus macht, sich glatt rasiert oder den Busch feiert, ist dabei ohne Wertung einem selbst überlassen. In meiner Welt jedenfalls.
Manchmal holt mich die heteronormative Realität aber dennoch ein, etwa wenn ich mich aus meiner (un-)heiligen Bubble hinausbewege und mein nicht binärer Hintern es sich auf dem Fußpflegestuhl meiner Mutter gemütlich macht. „Oh je, das ist ja ein Dschungel hier unten“, sagt sie dann mit Blick auf meine braunen Beinhaare und wieder überkommt mich die Scham. Dann halte ich meiner Mutter einen queer-feministischen Ted-Talk. Vielleicht schließt sie sich mir bald an. Mein Vater wäre dagegen, aber müsste dann wohl damit leben. Drei Monate später hab ich sie dann doch wieder abrasiert, nur weil ich manchmal ein Bedürfnis nach diesem weichen Gefühl nach dem Rasieren habe, nicht, weil ich Feminismus aufgegeben habe. Heute ist da wieder ein Dschungel. Rasieren, ja oder nein? Es juckt mich, ehrlich gesagt, nicht mehr.